Beziehung statt Erziehung, Haltung statt Handlung, Stärke statt Macht
von Sandro Hänseroth
"Viele Eltern sind heute in ihrem Erziehungsverhalten tief verunsichert. Sie können ihre Erziehung nicht mehr - wie in den vergangenen Jahrhunderten - auf den früher so selbstverständlichen Abstand zwischen Erwachsenem und Kind gründen. Der definierte, völlig unhinterfragt, die Erwachsenen als groß, mächtig, als Personen, die ausgelernt haben, die die Welt kennen und die wichtigen Dinge wissen. Demgegenüber war das Kind oder der Jugendliche klein, musste alles erst allmählich lernen und zum Erwachsensein erzogen werden". Das schreibt Wilhelm Rotthaus (2015, S. 15) im Vorwort des Buches "Autorität durch Beziehung" von Haim Omar und Arist von Schlippe: Haim Omer ist ein 1949 geborener israelischer Psychologe und entwickelte an der Hochschule Tel Aviv in den 90er Jahren das Konzept der “Pädagogik der neuen Autorität” - ein Ansatz für Eltern – aber auch für pädagogische Fachkräfte. Im Kern geht es um eine Autorität, die geprägt ist von Gewaltfreiheit, Präsenz und Beziehung. Er forschte zu der Frage, was man mit Kindern und Jugendlichen tun kann, die sehr aggressiv und selbstverletztend sind und jegliche Formen von Autorität ablehnen. Vor ca. zehn Jahren brachte er das Konzept gemeinsam mit Arist von Schlippe in den deutschsprachigen Raum. Seit der Jahrtausendwende ist die neue Autorität eine neue Form und Haltung zur Autorität. Dieser Artikel beleuchtet die Aspekte eines Ansatzes, eines Konzeptes, einer Haltung – für Eltern ebenso wie für pädagogische Fachkräfte und Menschen, die mit anderen Menschen arbeiten, sei es in erzieherischen, pädagogischen oder beraterischen bzw. therapeutischen Kontexten.
"Es gibt keinen Weg zu einer guten Beziehung,
eine gute Beziehung ist der Weg!”
(Michael Grabbe)
Mit dem Begriff “Autorität” verbinden wir zunächst einen der bekannten Erziehungs- und Führungsstile (neben laissez faire und demokratisch bzw. partnerschaftlich oder anti-autoritär). Diese Konzepte betrachten jeweils eine Person, die erzieht oder führt - und eine Person, die erzogen und geführt wird. “Erziehung und erziehen (lt. Duden = herausziehen) bedeutet, jemandes Geist und Charakter zu bilden und seine Entwicklung zu fördern” (Stangl 2021, Internetquelle). “Erziehung kann als Versuch der Beeinflussung (Intervention) verstanden werden, durch den eine Verbesserung und Vervollkommnung der Persönlichkeit des Erzogenen erreicht werden soll“ (Hurrelmann 2006, S. 156). Bereits in diesen klassischen Definitionen wird deutlich, dass Erziehung im bisherigen Sinne scheinbar immer etwas mit Autorität, Macht und Hierarchie zu tun hat - und damit mit einem Bild von Beziehungsgestaltung zwischen zwei Menschen - nämlich der Person, die erzieht - und der Person, die erzogen werden soll. “Die autoritäre Instanz forderte das Einhalten von Regeln ein, Nichtbeachtung wurde mit strengen Strafen geahndet. Eltern waren unnahbar und entschieden, was richtig und was falsch war” (Omer / Streit 2018, S. 15). Ziel von autoritärer Erziehung war und ist die Angst - sie setzt auf Beziehungsabbruch und Liebesentzug als steuerndes Mittel (vgl. ebd). So entsteht ein klares Machtgefälle zwischen der erziehenden und der zu-erziehenden Person, wobei es bei Macht eher um ein Einflussverhalten auf andere Menschen geht, oft verbunden mit Zwang. Bei Autorität geht es eher darum, dass Menschen gemeinsam miteinander handeln - manchmal mit dem paradoxen Ziel, dass Menschen wiederum anderen frei- und bereitwillig folgen - was ähnlich der paradoxen Idee ist, spontan kreativ zu sein. Wir folgen jedoch auch Menschen, weil wir ihnen Autorität zuschreiben, und nicht, weil sie uns vorgeschrieben wird. In der ursprünglichen Idee der Autorität folgen Menschen anderen Menschen freiwillig - und nicht, weil sie müssen.
Klassisch kennen wir die Phänomene Autorität, Macht und Erziehung im pädagogischen Sinne aus der Arbeit mit Familien - aber auch in professionellen pädagogischen Kontexten spielen diese Themen eine bedeutende Rolle (KITA, Schule, Jugendhilfe etc.). Gerade in überfordernden, stressigen oder konfliktbehafteten Situationen reagieren Menschen oft (ungewollt) autoritär, streng oder mit Macht - sie versuchen, die Kontrolle zu erlangen, Grenzen aufzuzeigen, erheben die Stimme und tun alles, um Situationen und Ereignisse in ihrem eigenen Sinne zu steuern. Von solchen Erfahrungen berichten auch viele pädagogische Fachkräfte. Aus meiner Erfahrung in der supervisorischen und fallbezogenen Arbeit mit Lehrer/innen sind es oft erst einmal sogenannte “schwierige” Kinder, die den Unterricht stören, unaufmerksam sind oder mit Absicht etwas tun, was gegen die Fachkräfte gerichtet ist. Systemisch betrachten wir dann zunächst den Kontext und die Umgebung - mit der Frage, was dies für eine Auswirkung auf das jeweilige Kind hat. Verhalten ist immer auch ein Ausdruck von Bedürfnissen - und nicht immer können Kinder oder Jugendliche diese Bedürfnisse genau benennen - oder gar erschließen. Nun ist gerade der Kontext Schule und Unterricht mit starren Regeln (Stillsitzen, Melden, Zeitstrukturen etc.) für Kinder herausfordernd, da diese in den jeweiligen Entwicklungsphasen vor allem nach Lebendigkeit und Selbstwirksamkeit streben und die Welt erkunden und erforschen wollen. Dieses Bedürfnis muss in der Schule z.B. zum großen Teil unterdrückt werden - zudem teilt man die Aufmerksamkeit des Lehrers oder der Lehrerin mit über 20 anderen Schüler/innen. Das führt, so die Hypothese, zu Frustration - und der Fokus der Aufmerksamkeit wechselt vom Unterricht weg und hin zu den Dingen, die das Kind eher interessieren. Es beginnt, mit anderen in Kontakt zu treten, spielt, malt oder wird unruhig. Auf dieses Verhalten wiederum reagiert der/die Pädagog/in - leider oft entgegen des eigentlichen Bedürfnisses - sondern eher mit maßregelnden, steuernden oder erziehendem Verhalten - bis hin zur Androhung von Strafen etc. Das Kind fühlt sich dann weder gesehen noch wertgeschätzt - und schon gar nicht in seinen Bedürfnissen ernst genommen. Hinzu kommt, dass der/die Pädagog/in ihre innere Haltung zum Kind ändert. Er/sie entwickelt vielleicht Wut, Abneigung, Ärger oder eigenen Frust, was sich wiederum auf das Kind überträgt. Es lässt sich sicher nachvollziehen, dass unter diesen Umständen weder das Kind mit der Fachkraft - noch die Fachkraft mit dem Kind in einer gelingenden, positiven Beziehung ist. Zu dieser Erkenntnis kommen in den Supervisionen dann auch die Pädagog/innen - letztlich liegt es an der inneren Einstellung. Diese nennen wir oft auch Haltung - und meinen die Beziehung zum Kind, die entscheidend für den Ausgang konfliktbehafteter Ereignisse und Situationen ist. Fokus der weiteren Reflexionsarbeit sind dann die eigenen Anteile, das eigene Handeln, die eigene Einstellung - und die Veränderung der selbigen - frei nach der Annahme, dass man andere Menschen nicht ändern kann - sich selbst und seinen eigenen Umgang jedoch schon. An dieser Stelle folgt in Supervisionen, Fallberatungen oder Fortbildungen von meiner Seite oft ein flammendes Plädoyer für Haim Omers Konzept der neuen Autorität. Die Säulen der Neuen Autorität können dabei nicht ausschließlich für die Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen verstanden werden. Auch für pädagogische Fachkräfte sowie Fachkräfte in Beratung und Therapie ist der Ansatz nützlich für die Beziehungsgestaltung. Doch was genau hat es mit dem Konzept der neuen Autorität auf sich und wie können wir es für unsere professionelle und alltägliche Beziehungsgestaltung nutzen und worauf gründet sein erzieherischer und pädagogischer Ansatz genau?
Haim Omer baut sein Konzept unter anderem auf Kernideen und Grundgedanken des systemischen Arbeitens und der humanistischen Psychologie auf. Kindern soll eben nicht anerzogen werden, wie sie sich zu verhalten haben. “Kinder und Jugendliche ändern sich, weil Eltern und Bezugspersonen sich ändern und eine neue, andere Haltung einnehmen” (Omer / Streit 2018, S. 9). Die Grundlogik hinter dem systemischen Konzept ist die Kernidee, dass jegliche Ereignisse immer Auswirkungen auf die einzelnen Personen im System haben, also z.B. in einem Familiensystem. Das Verhalten von Person A hat immer Auswirkungen auf das Verhalten von Person B (im Rahmen des Konzepts also das Verhalten der Erwachsenen bezogen auf das Verhalten des Kindes). Hintergrund ist, dass in Systemen alles mit allem verbunden und in Interaktion ist bzw. in Beziehung steht. Veränderungen in einem Bereich des Systems haben Auswirkungen und Effekte auf alle anderen Teile des Systems - wie in einem Mobilee, welches an jeder Stelle berührt werden kann und am Ende bewegt sich das gesamte Mobilee. Das Handeln der Systemmitglieder, also z.B. der erwachsenen Personen, wird dabei durch ihre Präsenz beeinflusst, was enormen Einfluss und Auswirkungen auf das Bindungsverhalten von Kindern gegenüber ihren Eltern hat. Somit richtet Haim Omer einen Fokus seines Konzepts auf die Bindungstheorie von John Bowlby. Die Bindungsforschung geht davon aus, dass die frühen Bindungserfahrungen so sehr prägen, dass sie unser Erleben und unsere Beziehungsgestaltung bis ins hohe Erwachsenenalter beeinflussen. John Bowlby selbst erforschte die Auswirkungen von der Trennung der Mutter auf das Kind. In seinem Buch „Bindung als sichere Basis“ verdeutlicht er „die unverzichtbare soziale Funktion der Eltern“ (Bowlby 2008, S. 3). Er verweist dabei auf diverse Studien, die bestätigten, dass zufriedene, gesunde und selbstbewusste Jugendliche meist in stabilen Familien aufwuchsen, in denen sie viel Aufmerksamkeit und Zuwendung von den Eltern erhielten (vgl. ebd). Je mehr ein Kind sich auf die Verfügbarkeit seiner Fürsorgeperson verlassen kann, desto mehr kann es sich Neugierde, Erkundungsdrang und dem Spiel hingeben. Durch die Fürsorge der Bindungsperson kann das Kind ein soziales Verhalten ausbilden, welches ihm erleichtert, positiven sowie negativen Situationen entgegenzutreten (vgl. König 2009, S. 101f). Das Ziel elterlicher Be- und Erziehung ist es, dass das Kind eine sichere Bindung aufbaut - somit also die innere Sicherheit entwickelt, dass die Bezugsperson auch nach zeitlich begrenzter Abwesenheit zurückkehrt und das Kind sich hierauf verlassen kann. Sicher gebundene Kinder können besser mit (emotionalem) Stress umgehen, gehen besser soziale Beziehungen ein und erforschen ihre Umwelt in der Sicherheit, immer wieder in ihren “sicheren Hafen” der Bezugsperson zurückkehren zu können. “Eine sichere Bindung ist ein psychischer Schutz und ein stabiles Fundament für eine gute Persönlichkeitsentwicklung und persönliche Reifung. Sicher gebundene Kinder sind widerstandsfähiger gegen Belastungen, haben mehr Bewältigungsmöglichkeiten, leben eher in freundschaftlichen Beziehungen, sind häufiger in Gruppen, verhalten sich in Konflikten sozialer, weniger aggressiv und finden Lösungen, die ihnen weiterhelfen. Sie sind kreativer, flexibler, ausdauernder und ihre Lern- und Merkfähigkeiten, also ihr Gedächtnis ebenso wie ihre Sprachentwicklung, sind besser als die von unsicher gebundenen Kindern“ (Brisch 2021, Internetquelle). Neben sicher und unsicher gebundenen Kindern gibt es zudem noch unsicher-vermeidende sowie unsicher-ambivalente und desorganisierten Bindungstypen. Der Bildungstyp hat letztlich nicht nur Einfluss auf die Beziehungsgestaltung im weiteren Verlauf der Kindheit, sondern auch auf kommende Bezugspersonen (Erzieher/innen, Lehrer/innen, Ausbilder/innen etc.).
"Kinder machen nicht das,was wir sagen,
sondern das, was wir tun.“
(Jesper Juul)
Elterliche Präsenz und eine damit verbundene wachsame Sorge der Eltern sind für Omers Konzept die erste Verankerung für eine gelingende Erziehung. Diese Verankerungen können auch gleichzeitig als Ziele seiner Idee der neuen Autorität verstanden werden. Eltern und Bezugspersonen sind für Omer eben jener sichere Hafen im Alltag ihrer Kinder. Immer, wenn das Kind also beim Erforschen der Welt an Grenzen stößt, fällt oder etwas nicht funktioniert, kann es in diesen sicheren Hafen zurückkehren und entwickelt das Gefühl, dass die Bezugsperson immer da ist (basierend auf der Grundidee der sicheren Bindung). Im Rückzug in die sichere Basis z.B. der Mutter findet das Kleinkind dann immer wieder Sicherheit und damit auch eine Form von Verlässlichkeit, mit welcher das Kind wieder sinnbildlich in die Welt zieht, um diese zu erkunden und zu erforschen. Haim Omer beschreibt dies als Doppelfunktion - einerseits helfend und ermutigend, andererseits loslassend - das Kind kann also jederzeit in die Welt gehen und gleichzeitig immer zurückkommen, um Sicherheit und Verlässlichkeit zu erfahren – und dies immer in dem Wissen, dass die Bezugsperson dableibt. So lernt das Kind, die eigene Bindung zu regulieren und entwickelt ein gesundes Bindungsverhalten. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob jemand in einer Situation sehr präsent ist (also psychisch anwesend, achtsam, selbstbewusst, beobachtend, wachsam, reflektiert) oder nicht. Ist die Person z.B. oft mit anderen Gedanken oder Tätigkeiten beschäftigt und somit der Fokus der Aufmerksamkeit nicht in der Situation, so hat dies Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung und das Verhalten des Kindes.
Elterliche Präsenz meint, da zu sein und dies auch zu empfinden, auszudrücken und entsprechende Signale zu senden, die Präsenz zeigen. Im Alltag könnte dies ein regelmäßiger Blickkontakt, wiederkehrende verbale und nonverbale Zeichen oder aktives Zeitverbringen mit Kindern und Jugendlichen sein. Dies verlieren Bezugspersonen in der Beziehungsgestaltung jedoch allzu oft, gerade in Konfliktsituationen, Streits, Meinungsverschiedenheiten oder bei Stress und destruktiver Anspannung, wie anfangs beschrieben.
Haim Omer - Weitere Informationen:
„Das Entscheidende, was in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern verloren geht, ist (...) nicht die Macht, sondern die elterliche Präsenz, das Bewusstsein, als Mutter, als Vater zu handeln“ (Omer / von Schlippe 2018, S. 33), also wenn die Eltern so handeln, dass die folgenden Botschaften übermittelt werden: Ich bin hier! Ich bin dein Vater/deine Mutter und werde es bleiben! Ich werde dir nicht nachgeben, aber ich werde dich auch nicht aufgeben! Ich kämpfe um dich und um meine Beziehung zu dir, nicht gegen dich! (vgl. ebd). Omers Ansatz unterteilt elterliche Präsenz in drei Dimensionen: Die individuelle Präsenz, der Selbstwert in der elterlichen Rolle sowie die Überzeugungen, die persönlichen Kompetenzen zu besitzen. Im Bereich des Verhaltens fokussiert er die Umsetzung der elterlichen Kompetenz, die körperliche Präsenz der Eltern sowie ein immer bestehendes Interesse am Kind und damit einer sorgenden Präsenz.
Neben den genannten Ankern „Präsenz und wachsame Sorge“ betont Omer zudem auch die Wichtigkeit von Struktur für Kinder und Jugendliche als zweite Säule der Verankerung. „Wenn in der Erziehung Chaos statt Ordnung herrscht, kommt es zu gravierenden Problemen und Schwierigkeiten. Kinder brauchen einen Rahmen, mit einer reinen, eigenverantwortlichen Bedürfnisbefriedigung sind sie heillos überfordert“ (Omer / Streit 2018, S. 19). Kindern können nicht zwischen richtig und falsch differenzieren und fehlende Ordnung verstärkt Ängste, Gewalt und Orientierungslosigkeit. Verlässliche Strukturen und ein klares Regelwerk sorgen für Stabilität im Erleben der Kinder, erzeugen Ordnung und Sicherheit und wirken sich positiv auf das Wohlergehen und die kindliche Entwicklung aus (vgl. ebd). Selbstkontrolle und Deeskalation bilden die dritte Form der Verankerung im Konzept der neuen Autorität und greifen damit den bereits genannten Grundgedanken auf, dass wir das Verhalten anderer nicht ändern oder kontrollieren können. „Das Einzige, das wir kontrollieren können, ist unser eigenes Verhalten (Omer / Streit 2018, S. 21). Es liegt letztlich an uns als Eltern und pädagogischen Fachkräften, unsere Gedanken, unsere Haltung, unsere Worte und Handeln zu kontrollieren, zu steuern und situationsadäquat sowie in gewaltfreier, wertschätzender und selbstbezogener Weite zu gestalten. „Wir haben die Möglichkeit, unsere Emotionen und Impulse (...) der Wut und der Unbeherrschtheit gerade in schwierigen Situationen im Zaum zu halten“ (vgl. ebd). Deeskalation stärkt unsere Selbstkontrolle und belässt damit unsere Emotionen bei uns – und die des Kindes bei sich. Die Beziehung kann sich somit auf das fokussieren, was sie ohne die Situation des Konflikts ist. Omer empfiehlt, die eigene Reaktion auf ein unerwünschtes Verhalten abzuwarten, zu schweigen und zu verzögern, statt impulshaft oder im Affekt zu reagieren. So eröffnen sich neue Möglichkeit von Erziehung und Situationsgestaltung ohne eine Eskalation. Seine Idee der Deeskalation trennt damit die Vorstellung von Autorität von jeglicher Form von Unterordnung und Gehorsam. Das Geheimnis einer gelingenden Erziehung ebenso wie einer professionellen pädagogischen Beziehungsgestaltung ist also, dass man das eigene Verhalten vom anderen unabhängig macht - vor allem in konfliktbehafteten Situationen oder Ereignissen, die mit Wut, Frustration und Ärger zu tun haben. “Vielfältige Möglichkeiten positiver Entwicklung entstehen, weil Eltern Provokationen widerstehen, Wiedergutmachung anregen und Unterstützung einfordern, anstatt mit voller Härte zu strafen, um ja nicht die Kontrolle zu verlieren” (Omer / Streit 2018, S. 9). Im systemischen Sinne definiert er die Dimension in der Unterstützung beispielsweise vom Partner bzw. der Partnerin, von Verwandten, Freund/innen sowie anderen Personen, die Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes haben, u.a. Lehrer/innen, andere Eltern, Bekannte etc. (vgl. Omer / von Schlippe 2018, S. 34). „Wenn Eltern andere um Unterstützung bitten, hält der Anker besser (...) und bei Kindern von Eltern, die Unterstützung haben, verringert sich die Auftrittswahrscheinlichkeit problematischen Verhaltens um die Hälfte (Omer / Streit 2018, S. 22).
Ein weiterer Grundpfeiler Omers Arbeit ist die Idee des gewaltlosen Widerstandes von Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Er meint damit vor allem eine wertschätzende Standhaftigkeit gegenüber Forderungen des Kindes sowie die Bereitschaft der Eltern bzw. Bezugspersonen, das Kind vor eigenen schädlichen Handlungen zu schützen. Weiterhin zielt der gewaltlose Widerstand darauf ab, auf jegliche körperliche und verbale Gewalt zu verzichten, kein drohen, beschimpfen, beleidigen etc. – ebenso, wie auf das Finden von Lösungen, in denen sich das Kind weder gedemütigt noch besiegt fühlt. Bei Eskalationen und Gewalt des Kindes werden im Sinne des gewaltlosen Widerstandes lediglich Schläge oder Angriffe passiv abgewehrt, jedoch nicht mit Gewalt zu antworten. So wird die elterliche Präsenz wiederhergestellt, um somit destruktives Verhalten zu beenden, ohne eine Eskalation hervorzurufen. Aus Kämpfen soll ausgestiegen werden (verbal wie körperlich) und stattdessen eine Verbindung zum Kind hergestellt werden, in dem Eltern ihre Rolle als Eltern und Kinder ihre Rolle als Kinder wieder einnehmen können, um wieder Nähe und Liebe empfinden zu können (vgl. Omer / von Schlippe 2016, S. 231). Ein weiteres Ziel einer neuen Autorität in der Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen ist also eine Form von Gleichwertigkeit / Gleichberechtigung und einer gelebten Gewaltlosigkeit. Gewalt in Beziehungen, aber auch in Organisationen ist oft wenig sichtbar (sie findet durch Ausgrenzung, Spott, Häme, Mobbing, latente Konflikte etc. statt) und hat viele negative Auswirkungen für die Betroffenen (es entwickelt sich Angst, Isolation, Abwehr, Selbstabwertung etc.).
Dies gilt für Beziehungen zwischen jungen und älteren Menschen ebenso, wie unter erwachsenen Menschen. Omer betont die Wichtigkeit der Präsenz von Bezugspersonen und deren Haltung, die er als Fähigkeit und weniger als Technik oder Erziehungsmethode bezeichnet (vgl. ebd). Auch in Supervisionen und in der Reflexion pädagogischer Situationen von Fachkräften geht es letztlich fast immer um die eigene Haltung, die letztlich auch in beraterischen und therapeutischen Kontexten elementar ist. Während unsere Körperhaltung durchaus ausdrückt, wie es uns geht (unser Körpererleben ist eng verbunden mit unseren Emotionen, denn unser Organismus ist bio-psycho-sozial, auch hier ist alles mit allem verbunden), geht es bei der Haltung im zwischenmenschlichen Sinne um eine Verkörperung einer inneren Einstellung in die Außenwelt. So entsteht auch ein Bild von der Welt und damit eine Beziehung zur selbigen – ebenso zu anderen Menschen, Situationen und Phänomenen des Lebens. Während Erziehung und Führung eher auf einer Verhaltensebene (mit Fokus auf Verhaltensänderung oder -anpassung) stattfindet, wird im Konzept der neuen Autorität die innere Welt fokussiert, welche unser Verhalten beeinflusst - sowohl im privaten sowie im pädagogischen Alltag. Das Konzept lässt sich somit auf alle Bereiche übertragen und anwenden, wo Beziehungsgestaltung eine elementare Rolle spielt.
Du kannst mich
nicht feuern.
Ich bin da
und bleibe da.“
(Haim Omer)
Verwendete und weiterführende Literatur
Bowlby, J. (2008): Bindung als sichere Basis. Grundlagen und Anwendungen der Bindungstheorie. München: Ernst Reinhardt Verlag. Originalausgabe (1988): A Secure Base. Clinical Applications of Attachment Theory, Routledge.
Brisch, Karl Heinz (2021): Sichere Bindung - Warum sie für unsere Entwicklung so wichtig ist. https://www.spielundzukunft.de/de-de/de_DE/content/blog-5014504/sichere-bindung---warum-sie-fuer-die-entwicklung-so-wichtig-ist-8395 (Zugriff am 09. Juli 2021)
Hurrelmann, Klaus (2006): Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim / Basel: Beltz Verlag
König, A. (2009): Interaktionsprozesse zwischen ErzieherInnen und Kindern. Eine Videostudie aus dem Kindergartenalltag. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Omer, Haim / von Schlippe, Arist (2018): Autorität durch Beziehung – Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen
Omer, Haim / Streit, Philip (2018): Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern. Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen
Omer, Haim / Haller, Regina (2020): Raus aus der Ohnmacht – Das Konzept Neue Autorität für die schulische Praxis. Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen
Stangl, W. (2021). Stichwort: 'Erziehung – Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik'. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. https://lexikon.stangl.eu/1410/erziehung (Zugriff am 10. Juli 2021)
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